Oh, du schöne Weihnachtszeit! Es ist Dezember, und wieder
einmal erreichen mich diverse Nachrichten aus Deutschland, ob es denn hier
nicht furchtbar dunkel sei, und wieviel es denn schon geschneit habe. Es ist
dunkel, aber nicht furchtbar, und als ich vor anderthalb Wochen Prüfungen hatte
und morgens püntklich um 8:00 Uhraus dem
Haus gegangen bin, habe ich jeden Tag die Sonne aufgehen sehen können, wenn ich
aus der Bahn stieg. Das erste Mal, seit ich Anfang Juni um 4:30 Uhr auf den Bus
zum Flughafen wartete, um nach Irland zu fliegen. Inzwischen sieht es mit
Sonnenaufgängen allerdings eher schwarz grau aus, denn seit Montagabend
ist es nass und stürmisch und in regelmäßigen Abständen gibt es Hagel und
Blitze.
Seit dem 1. Advent sind für mich Weihnachtsferien, aber
zuvor mussten wieder einmal Prüfungen geschrieben werden, und dieses Semester
hielt für Ravna wieder einmal eine besondere Hürde bereit – eine mündliche
Prüfung! Das erste und bis dahin einzige Mal, dass Ravna an einer mündlichen
Prüfung teilgenommen hat, war fürs Abitur und verglichen mit allen anderen
Abiprüfungen war das eine ziemliche Katastrophe. Politische Bildung war
eigentlich immer mein Fall, aber in dieser einen halben Stunde hätte man meinen
können, sie hätten mir aus Versehen die Physikaufgaben hingelegt, soviel hatte
ich (nicht) zu sagen. Diesmal ging es um den Gebrauch der Vergangenheit in der
Gegenwart, um das Verhältnis zwischen Erinnerung und Geschichte und
Kulturdenkmäler und Museen und andere staubige und furchtbar interessante
Dinge, und mir graute davor. Wir hatten zuerst eine Hausarbeit geschrieben, und
jetzt sollten wir jeder eine halbe Stunde Fragen dazu beantworten! Ich sollte
Angesicht zu Angesicht mit den Leuten reden, die meine Hausarbeit gelesen und
bewertet hatten! Wo ich doch sonst meine Klausuren und Arbeiten nur beruhigt
abgeben kann, weil ich weiß, dass nie jemand erfahren wird ,dass sie von mir
geschrieben wurde und die Note dann
irgendwann einfach im Internet auftaucht, ohne, dass jemand mich zuordnen kann.
Und jetzt sollte ich darüber reden, mit Leuten, die teilweise die Literatur
geschrieben hatten, die ich verwendet habe. Hilfe!
Und es war die reinste Katastrophe. Ravna wollte auf gar
keinen Fall ein Glas Wasser, weil das
nur der Schwerkraft zum Opfer gefallen wäre, aber die Erklärung, dass ihr immer
die Hände zittern, wirkte angesichts ihres besten Kaninchen-vor-der-Schlange-Blick
wohl nicht besonders überzeugend. Sie stotterte sich also durch zwanzig Minuten,
und bis auf die glorreiche Antwort „Wie jetzt, einfach so puff?“ auf die Frage, was sie denn zum Thema
Tradition und Modernität zu sagen habe, war es wirklich nicht lustig – aber die
beiden Prüfer müssen Mitleid gehabt haben oder waren nach einem Tag voll
mündlicher Prüfungen auch nicht mehr so ganz bei der Sache, denn notenmäßig war
es dann gar nicht so schrecklich. Jetzt muss ich nur noch das Studienfach
wechseln, damit ich den beiden nie wieder in die Augen sehen muss. Die sechsstündige
Klausur am Tag danach war weitaus mehr nach Ravnas Geschmack und lieferte zudem
das gleiche Ergebnis für weitaus weniger Unwohlsein. Wieso ich eigentlich als
Tourguide arbeiten kann, ist mir ein Rätsel. Reden! Mit fremden Leuten!
Aber nun sind alle Prüfungen geschrieben und die Zeit vergeht
vor allem mit Milchreisessen auf diversen Weihnachtsfeiern. Beim Tanzverein, im Wohnheim, mit YFU - überall wird gemeinschaftlich Milchreis gegessen, und wer eine Mandel in seiner Portion entdeckt, gewinnt ein Marzipanschwein. Wenn der Veranstalter etwas mehr Geld hat, etwa ein Arbeitgeber, gibt es auch richtiges Essen. Das nennt man dann "Julebord", also Weihnachtstisch, und weil da manchmal sogar der Alkohol gratis ist, überschwemmen nun jedes Wochenende in den Nächten stark angeheiterte Personen über 40 das Stadtzentrum und benehmen sich genau wie die neuen Studenten während der Erstiewoche, über die sie ein halbes Jahr früher noch entsetzte Leserbriefe in die Zeitung gesetzt haben.
Ansosnten bin ich momentan vor allem faul - meine Gastschwester
hat mich vor eine neue Fernsehserie gesetzt, im nächsten Semester habe ich
ein Fach, für das ich sechs richtige Bücher lesen kann und wenn mir nicht vor einer halben Stunde meine letzte Nadel unterm Sofa verloren gegangen wäre, könnte ich auch vor Weihnachten noch mit einer Stickerei fertig werden. Und ich habe sogar mein
Färöischbuch wieder einmal angeguckt. Am Samstag ist Weihnachten, weil wie
jedes Jahr nicht die ganze (Gast)familie an Heiligabend in Norwegen ist und wir
Weihnachten daher vorziehen, und am Sonntag fliege ich nach Berlin. Wenn uns der Sturm nicht vorher noch irgendwo anders hinpustet.