Taxifahren ist luxuriös und teuer (besonders in Norwegen),
die meisten Fahrer sind unfreundlich (in Berlin sowieso) und fahren Leute durch
die Gegend, ohne hinterher die nötigen Sozialabgaben auch abzugeben.
Soweit das Klischee. Ich wage die Behauptung, dass dem
(vielleicht von den norwegischen Preisen einmal abgesehen) nicht immer so ist.
Als nietrinkende Fahrradfahrerin, die immer früh zu Bett geht fast immer von ihren Eltern
herumkutschiert wurde und ansonsten in ausreichender Nähe ausreichend vorhandener
Verkehrsmittel zu Hause war und ist, kann ich mich kaum auf eigene Erfahrungen
berufen.
Um eine elegante Einleitung abzukürzen, am Dienstagmorgen,
nach einer wunderbaren Rügenosterwoche, fand sich Ravna plötzlich in einem Taxi
wieder – schöne neue Welt! Wobei die Praktikantin der frauenpolitischen
Sprecherin einer Fraktion des Bundestages in mir weiterhin allergisch auf
Türaufhalten reagiert, aber wir sind ja anpassungsbereit und an solch einer
Kleinigkeit sollte die kostenlose Tour zum Berliner Hauptgewächshausbahnhof
nicht scheitern.
Zeit ist relativ, und ich hetzte meinem nach über zwei
Wochen wieder auf „deutsch“ eingestelltem Zeitgefühl hinterher. Nahcdem ich
mein neuestes Reclam-Heft die Treppe zu Gleis 3 hinunterverfolgt hatte, waren
noch immer über 30 Minuten übrig. Die vorhandenen Bänke waren von einem Knäul
aus übergroßen Rucksäcken und deren kuhlen Backpackerbesitzern besetzt. Ganz am
Ende saßen eine ältere Dame mit einer Frisur, die auch meine Urgroßmutter schon
hat, seit ich mich erinnern kann, und deren in schweinchenrosa Samt gekleidete
Enkelin. Während Enkelin mit glücklicher Pausbackenmine, auf einem Schokoriegel
kauend, auf ihr mit pinken Glitzersteinchen beklebtes elektronisches Spielgerät
einhackte, musterte Ältere Dame ihre neuen Backpackernachbarn mit hochezogenen
nachgezogenen Augenbrauen. Von unten nach oben. Und von oben nach unten. Und
wieder zurück. Und von ganz links bis ganz rechts. Kein Tricorder der Welt
hätte genauere Scan-Ergebnisse liefern können.
Mit dem Zug nach Budapest verschwanden die meisten Bewohner
der für Ältere Dame so fremden Galaxie samt ihrer Rucksäcke, sodass auf der
Bank neben ihr ein Plätzchen für mich und mein Reclam-Heftchen wurde.
Meine Aufmachung aus Kleid, Strickjacke und Seitenscheitel
war Vierziger genug, um Ältere Dames Tricorderaugenscan zu entgehen.
Stattdessen richtete sie diese nun auf mein oranges Reclam-Heftchen. Es ist
eine Sache, gemeinsam mit einer seiner allerbesten Lieblingsfreundinnen (womit
der Schmalz für heute aufgebraucht wäre) in der Rostocker S-Bahn zu sitzen und
in ein und demselben Buch zu lesen (ich hätte auch die deutsche Version kaufen
sollen, auf Englisch sind die Namen viel langweiliger). Fremde Frauen habe ich
nur ungern schmatzend in meinem Ohr hängen. Aber gut, am Ende verschwanden sie
und die rosa Enkelin in einem anderen Abteil und ich konnte mich in Ruhe meinen
Prüfungsvorbereitungen widmen weiterlesen.
Bei der Bahn ist man Experte
darin, durch Raum und Zeit zu navigieren und so war mein Anschlusszug bereits
vor einer halben Stunde abgefahren, als wir im Leipziger Hauptbahnhof materialisierten
einfuhren.
Die meisten Humanoiden auf
dem S-Bahn-Steig gehörten der Spezie der beigen Rentner an und zwischen all den
Steppjacken und Bügelfaltenhosen fühlte ich mich nun tatsächlich wie ein Alien.
Und je weiter sich die S-Bahn hinaus aus der Stadt und in die endlosen Weiten
Sachsens bewegte, desto mehr wurden es. Reisen bildet und so lernte ich das Konzept der „Bedarfshaltestelle“ kennen,
passierte die Stadt, in der ich geboren wurde (was ich weiterhin für ein
Gerücht halte – ich besitze kein einziges beiges Kleidungsstück und kann harte
Konsonanten benutzen!) und schwups, schon hielt der Zug an einem Bahnhof, der
in den Erinnerungen meines Grundschul-Ichs noch einen eigenen Warteraum hatte,
dessen Gebäude aber inzwischen zum Verkauf stand. Ich war bereit für ein neues
Abendteuer – meinen Großvater, der mich im hohen Norden wähnte, zu seinem 70.
Geburtstag zu überraschen.
Nach einem dreiminütigen
Marsch in die falsche Richtung und einem missglückten Versuch, die einzige
Eingeborene, die von meiner Ankunft erfahren durfte, zu kontaktieren (die
Verbindung nach Berlin kam nie zu Stande) war ich auf dem richtigen Weg. Nach
zwanzig Minuten und kurz vor dem Ziel traf ich auf ein unüberwindbares
Hindernis in Form eines Terriers und mein abruptes Anhalten wurde von hinten
mit entnervtem Klingeln quittiert – sobald sie sah, wer sich da nach dem
Geräusch umdrehte, fiel meine Großmutter allerdings beinahe vom Rad und freute
sich ganz fürchterlich und alleine das Gesicht meines Großvaters, als ich in
der Tür stand, war den Ausflug in diese fremde Welt allemal wert.
Auf Reisen in fremden
Galaxien muss man natürlich auch die lokalen Bräuche kennenlernen. Teilnehmende
Beobachtung ist eine Methode der kulturwissenschaftlichen Feldforschung, sagte
meine Prüfungsvorbereitung, wobei meine Enkelrolle einerseits die Beobachtung
äußerst subjektiv, mein Aliengefühl andererseits die Teilnahme äußerst kurios gestalteten.
Nach einigem Hin und Herräumen des gedeckten Kaffeetisches im Sonnenschein
trafen die ersten Gäste ein. Mein Großvater feierte seinen Geburtstag mit
lauter weiblichen Gästen! Die meisten kannten mich vom Hörensagen oder aus
Zeiten, die vor meinem Erinnerungsvermögen liegen und die allermeisten siezten
mich – ich habe das Land verlassen, bevor ich dafür alt genug war! Wie um
Himmels Willen soll ich mich denn Leuten vorstellen, die mich siezen? Frau H.
bin doch gar nicht ich, das ist meine Mutter! Der Kuchen war lecker und dass der
schwarze Streuselkuchen es nie wirklich geschafft hat, die sächsische
Landesgrenze zu überschreiten, ist eine Schande. Nach einigen Tassen Kaffee gab
es den nächsten Brauch zu beobachten – das Verlesen eines Gedichts mit
Überreichung eines dazu passenden Geschenkes.
Während ich nun also dort im
Sonnenschein saß, den Kuchen und den Smalltalk genoß, setzte sich plötzlich Anita
neben mich, die einzige, die ich nebem meinen Großeltern und meiner Uroma recht
gut kannte – und sagte: „Ravna, also ich muss das jetzt mal fragen – wie ist
das denn da, dort in Norwegen? Bist du da ganz alleine, oder hast du da auch
Freunde?“
Hatte ich mich vorher wie ein Alien gefühlt, kam ich mir jetzt eher
vor wie im falschen Film. „Auf der Kautsch mit Tante Anita“ vielleicht. Was
sollte denn das? Es ist ja schön, wenn sich die Leute Sorgen um einen machen,
aber - äh? Bei 13 Einwohnern pro km² mag es ja manchmal schwierig werden, aber
so einsam ist es ja dann auch nicht. Und was antwortet man dann? „Nein,
Freunde, sowas kennt man in Norwegen nicht. Wir sitzen alle den ganzen Tag auf
unseren Zimmern, dreimal am Tag wird Essen durch die Katzenklappe geschoben und
zweimal die Woche machen sie die Türen auf und lassen uns in den Hörsaal. Aber
wenn wir dann jemanden direkt angucken, müssen wir wieder zurück ins Zimmer.“
Nein, natürlich nicht. Das wäre unhöflich. Oder „Freunde, nein, in Norwegen ist
doch alles so teuer, das kann ich mir nicht leisten.“ Auch nicht. Obwohl auch ich
schon immer rote Haare haben wollte.
Liebe Leute! Ja, ich wohne in
einem fremden Land! Und ich kann sogar die Landesprache! Und ich rede mit den Leuten,
und die sind sogar nett! Zumindest meistens. Und ich gehe zu Vorlesungen und
zum Volkstanz und zu YFU-Seminaren und zu YFU-„Vorstands“sitzungen und auf
Arbeit und ins Kino und auf Partys und zum Sonntagsmittag mit meiner
Gastfamilie und auf Hyttetur und auf einen Kaffee mit Kjersti und manchmal
fahre ich übers Wochenende auf einen abgelegenen Hof und tue mit zwanzig
anderen so, als schrieben wir das Jahr 1030. Und manchmal sitze ich auch den
ganzen Tag auf meinem Zimmer und lese Reclam-Heftchen oder gucke Fernsehserien.
Das mag ja alles nicht normal sein, aber ich bin ziemlich glücklich damit.
Andere wohnen eben lieber zu Hause und
sprechen ihre Muttersprache, und sie reden mit den Leuten, und meistens sind
sie nett und dann machen sie eine Ausbildung und gehen zum Sportverein und in
die Dorfdisco und zum Sonntagsmittag zu Mutti und auf einen Kaffee mit Katrin
und manchmal fahren sie am Wochenende nach Leipzig und gehen in den Zoo. Und
manchmal sitzen sie auch den ganzen Tag zu Hause und spielen Computerspiele und
gucken Fernsehserien. Und ich mag das ja alles komisch finden, aber sie sind
ziemlich glücklich damit.
Und solange wir am Ende des
Tages alle im Sonnenschein sitzen und schwarzen Streuselkuchen essen können,
ist dass doch alles völlig in Ordnung und wunderbar und fantastisch.